Jochen vom SIP Scootershop Team: „Ich habe ein geiles Leben“

Erstellt von Dietrich Limper um 07:09 Uhr am 28. September 2022

Die Geschichte von SIP Scootershop Mitarbeiter Jochen

Eigentlich lief für Jochen alles nach Plan. 1990 kam er im Alter von drei Jahren mit seinen Eltern und einem jüngeren Bruder aus dem rumänischen Mediasch nach Deutschland. Er besuchte die Grundschule im oberbayerischen Kaufering und machte 2004 die Mittlere Reife an der Realschule in der Großen Kreisstadt Landsberg am Lech. Anschließend folgte die Ausbildung zum Elektroniker als Zivilist am Fliegerhorst Penzing, damals noch ein Standort der Bundeswehr. Der Azubi genoss das Leben, hatte viele Freunde, war in einer Beziehung, liebte Sport (Judo, Snowboard, Mountainbike) und Action. Nur die anschließende Tätigkeit als Geselle in einem ehemaligen Bunker in Igling taugte dem jungen Mann nicht, und im Februar 2008 beschloss er, sein Glück in der Gastronomie zu suchen. Zwei Tage vor der Eröffnung eines Lokals in Kaufering machte er mit seinen Kumpels einen folgenschweren Ausflug nach Hochsölden in Österreich. Es war der 24. Oktober 2009. Ein Datum, das Jochen niemals vergessen wird.

„Ich sehe es heute noch vor mir. Die Sonne schien an einem blauen Himmel, der Neuschnee glitzerte wie Millionen Diamanten und wir alberten im Schnee herum“, erinnert sich Jochen. „Dann hatte ich die Idee, mich kopfüber in den Schnee fallen zu lassen. Dabei fiel ich dermaßen unglücklich, dass mein Kopf im Tiefschnee stecken blieb und der Körper sich darüber schob. Ich hörte es Knacken und ich fühlte einen kurzen Schmerz. Danach hat es vom fünften Halswirbel aus einmal durch den ganzen Körper gekribbelt und an diesen Stellen hatte ich hinterher kein Gefühl mehr.“

Abtransport per Hubschrauber

Seine Freunde dachten, er mache einen Spaß, als er sagte, dass er sich nicht mehr bewegen könne. Knochenbrüche war Jochen durch seine vielen sportlichen Tätigkeiten gewohnt, aber in diesem Augenblick wusste er, dass etwas schlimmes passiert war und sich sein Leben verändern würde. Vorsichtig wurde er auf den Rücken gedreht und nach einer Viertelstunde erschien die Bergwacht, aber die erkannte schnell, dass Jochen nicht auf dem Schlitten transportiert werden konnte. Er hatte Glück im Unglück, denn auf dem Hang gegenüber fand ein Skirennen statt und dort stand ein Helikopter. Der wurde angefordert und war in wenigen Minuten da, konnte aber nicht landen, weil das Gelände zu steil war. Also wurde der Verunglückte in eine Vakuumtrage gepackt und am Seil hängend ins Tal geflogen. „Unten auf dem Hubschrauber stand ‚Martin 375‘, daran kann ich mich genau erinnern. Und ich habe mich noch geärgert, dass ich endlich mal durch die Berge fliege, aber mich nicht umschauen kann.“

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Alles im Blick im Kleinteilelager

Der Abtransport endete im Universitätsklinikum Innsbruck. Nach dem Röntgen teilten ihm die Ärzte mit, was er schon vermutet hatte: der fünfte Halswirbel war gebrochen. In einer dreistündigen Operation wurde ihm eine Titanplatte eingesetzt und am vierten und sechsten Halswirbel befestigt. Vom Becken wurden Teile des Knochens genommen und als Brei in die Bruchstelle geschmiert. „Es kann sein, dass Sie nach der OP nicht mehr selbständig atmen können“, hatte der Arzt gesagt, „und zwar für immer.“ Doch das blieb Jochen erspart. Er erwachte aus der Narkose in einem Raum mit sieben anderen Patienten, die allesamt im Koma lagen. Zwar konnte er die Finger nicht bewegen, aber wenigstens noch die Hand. Und er konnte atmen.

Als der Arzt kam, gab es nur eine Frage, die Jochen im stellte: „Und? Wann kann ich wieder laufen?“ Das würde mit dieser Verletzung nicht mehr möglich sein, war die Antwort. „Wenn Sie irgendwann mit einem Elektrorollstuhl selbständig fahren können, dann ist schon viel geschafft“, war die Prognose. „Da habe ich mir gedacht, dem werde ich’s zeigen“, erzählt Jochen und gab sich kämpferisch. Eine Eigenschaft, welche die folgenden Jahre entscheidend beeinflussen sollte.

Nach elf Tagen wurde er in die Unfallklinik nach Murnau verlegt, die einen hervorragenden Ruf genießt. Der lange Prozess der Rehabilitation begann und sollte vier Monate dauern. Jochen musste alles neu lernen und damit zurechtkommen, dass er ab dem Hals eigentlich nichts mehr bewegen kann, außer den Armen und Händen. „Ich war damals zum Glück jung und sehr fit. Mein Körper wollte noch. Heute würde ich die Umstellung vielleicht nicht mehr schaffen. Ich war mir sicher, dass ich Murnau auf zwei Beinen laufend verlassen würde.“

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In Verhandlung mit Zoll und Speditionen

Rückkehr ins Leben

Doch zunächst einmal musste er wieder sitzen lernen, was viele Tage in Anspruch nahm. Und als er endlich einen Aktivrollstuhl benutzen konnte, war das ein großes Ereignis. Diesen Rollstuhl sollte er bis heute nicht mehr verlassen, denn seine Beine konnte er nicht mehr reaktivieren. „Scheiße“, dachte Jochen da zum ersten Mal. „Ich war 22, ich hatte Pläne, verdiente endlich Geld, hatte eine tolle Freundin und wollte im Leben durchstarten! Und dann das! Ich kann nicht mehr allein zur Toilette, brauche bei jedem Mist fremde Hilfe. Ich hatte nicht mal mehr die Kraft, den Löffel vom Teller zum Mund zu heben. Da hatte ich dann eine Woche lang wirklich einen Durchhänger. Aber meine Freunde haben mich jeden Tag besucht und wenn ich die nicht gehabt hätte, wäre ich heute nicht da, wo ich bin.“

Vier Monate dauerte der Aufenthalt in Murnau und Jochen wurde klar, dass er nicht der erste ist, dem so etwas passiert. Er nahm den Kampf an und beschloss, das beste aus seiner Situation zu machen. Eine Entscheidung fürs Leben.

Nächste Station: Drei Monate Bad Wildbad im Schwarzwald für die Anschlussheilbehandlung. Während dieser Zeit änderte er seine private Lebenssituation, denn die Wohnung im dritten Stock war natürlich vollkommen ungeeignet. Seine Freundin und Freunde organisierten eine neue Bleibe, den Umzug und machten alles behindertengerecht. „Ich wurde auf das Leben außerhalb der Blase Krankenhaus vorbereitet. Noch heute fahre ich einmal im Jahr zur Reha nach Bad Wildbad. Schließlich holte mich meine Freundin ab und ich kam zum ersten Mal in die neue Wohnung in Kaufering. Es war ein Vorteil, dass meine Freundin den ganzen Tag in München beim Studium war, so dass ich gezwungen wurde, zuhause allein zurechtzukommen. Ich bekam zwar Mahlzeiten gebracht, aber ansonsten war ich auf mich selbst gestellt. Irgendwann wurde mir schließlich langweilig und ich musste mir darüber klarwerden, was ich mit meinem Leben noch anfangen wollte.“

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Jochen vor den Toren von SIP Scootershop

Bewerbung bei SIP Scootershop

Im Jahr 2011 machte Jochen eine sogenannte „Arbeitserprobung“, um festzustellen, für welche Tätigkeit er geeignet ist. Im Juli desselben Jahres begann der die Umschulung zum Industriekaufmann und zweieinhalb Jahre später die erfolgreiche Prüfung bei der IHK. Es folgte eine Zeit, in der ihm die Lebenslust wieder abhandenkam. Die Freundin verließ ihn und auf seine mehr als 90 Bewerbungen bekam er nur Absagen. Den Tiefpunkt hatte er 2014 erreicht. Doch dann erhielt er von Basti Attenberger das Angebot, die Buchhaltung für „Traditional-Motors“ in Obermeitingen zu übernehmen. Dort lernte er Ludwig Matt kennen, der ihm von SIP Scootershop erzählte. „Bewirb dich da doch mal“, sagte Ludwig. Gesagt, getan. Zwei Tage später saß Jochen am Tisch mit SIP Scootershop-Chef Alex und fing im Februar 2015 in der Graf-Zeppelin-Straße an.

Sein Bereich ist bis heute der Export von Produkten, die SIP Scootershop verlassen. Er kümmert sich um die Zollabfertigung und holt Angebote bei Speditionen ein. „Alles, was bei SIP im Wert über tausend Euro aus der EU rausgeht, läuft über mich. Die Menge hat sich im Vergleich zum Anfang nun verzehnfacht. Pro Woche verschicke ich rund neun Paletten in die ganze Welt. Früher war das alle vier Monate mal eine. Mir macht es Spaß, ich mache es gerne und finde es geil, dass ich in der Woche mindestens 40 Stunden arbeiten kann. Die zweite Ausbildung hat sich also wirklich gelohnt.“

Mit den Kollegen und Gegebenheiten kommt er gut klar. An seinen derben Humor (auch über sich selbst) müssen sich manche neuen Mitarbeiter allerdings erst einmal gewöhnen. „Ich bin bei SIP Scootershop einfach gut aufgehoben und fühle mich dort wohl.“

„Wir sind sicherlich noch nicht zu 100 Prozent barrierefrei, aber in den alten Räumlichkeiten an der Graf-Zeppelin-Straße war es noch schlimmer“, sagt Ralf Jodl, Co-Geschäftsführer von SIP Scootershop. „Wo ein Wille ist, findet sich in der Regel auch ein Weg. Wir können andere Unternehmen nur ermutigen, auf Mitarbeiter wie Jochen zu setzen, denn durch ihn hat sich auch das Betriebsklima positiv verändert. Gewisse Probleme und Wehwehchen relativieren sich einfach.“

Dem kann sich Sebastian Wiemer, Jochens direkter Vorgesetzter, nur anschließen: „Mein Leben kommt mir im Vergleich zu Jochen oft langweilig und trist vor, denn ich könnte viel mehr machen. Es ist wirklich schwierig mit Jochen nicht auszukommen. Nach kurzer Zeit blendet man völlig aus, dass er im Rollstuhl sitzt. Jochen ist aus unserem Team einfach nicht wegzudenken. Wenn er zu frech wird, lege ich einfach sein Handy oben auf den Schrank.“

Seit 2015 sei er mit sich im Reinen, sagt Jochen. Er spielt Rollstuhl-Rugby bei den Chariots in Augsburg, hat nach wie vor einen großen Freundeskreis und düst mit seinem Hand-E-Bike durch die Gegend. Seit Oktober 2017 hat er sogar sein eigenes Auto, denn ein VW T6 wurde so umgebaut, dass er ihn per Sprachsteuerung fahren kann. Ein ganz neues Lebensgefühl, versichert Jochen, und eine Investition von 65.000 Euro. Eine neue Lebenspartnerin hat er auch gefunden und der Zukunft sieht er optimistisch und mit Lebensfreude entgegen. „Ich habe alles, was ich brauche“, sagt er voller Überzeugung, „und es vor allem meinen Freunden zu verdanken, dass ich es geschafft habe. Ich kann es mir nicht vorstellen und habe auch noch niemanden kennengelernt, der es auf eigene Faust gepackt hat. Es mag blöd klingen, aber ich kann es nicht anders sagen: Ich habe ein richtig geiles Leben.“

Bildergalerie: Mitarbeiterportrait Jochen

Jochen bei SIP Scootershop

Video “Best Workspaces 2022 - SIP Scootershop”

Dietrich Limper
Dietrich Limper

Dietrich Limper arbeitet als Redakteur für SIP Scootershop, außerdem schreibt er für lokale und überregionale Publikationen. Wenn er nicht gerade Geocachen geht, genießt er die erste Deutsche Meisterschaft von Bayer Leverkusen.

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